Normenkonflikte in pluralistischen Gesellschaften
Kulturelle Vielfalt ist ein wesentliches Merkmal moderner Gesellschaften, und sie fordert sowohl den einzelnen Menschen als auch die Politik und Zivilgesellschaft heraus. Dafür gibt es mehrere Ursachen.
Durch Flucht und Migration verschieben sich demographische Strukturen und erschüttern normative Gewissheiten. Lokale Bevölkerungen werden dazu genötigt, ihre eigenen Werte zu überdenken und die Grenzen des Akzeptierbaren auszuloten, Migrant/innen mit der Zumutung konfrontiert, sich nicht nur räumlich, sondern auch sozial und kulturell neu zu orientieren. Hybridkulturen entstehen, ungewohnte soziale Bezugsrahmen und Identitäten, die fluid und spielerisch, aber auch starr und repressiv sein können. In der Diaspora kann die kulturelle Verunsicherung so groß sein, dass Gemeinschaften sich jeglicher Veränderung entziehen und die Bewahrung von Normen einfordern, die in den jeweiligen Herkunftsregionen längst erodiert sind. Auch lokale Bevölkerungen sind durch rasante Diversifizierungsspiralen häufig überfordert und wünschen sich eine vermeintlich heile Vergangenheit zurück. Rechtspopulistische und nationalistische, aber auch fundamentalistische Bewegungen sind Ausdruck der emotionalen Überlastung.
Doch es ist nicht allein die Pluralisierung durch Migration, die bewältigt werden muss. Moderne Gesellschaften verändern sich ebenso durch Wissen, die Globalisierung der Arbeit und den Einfluss verbesserter Kommunikationsstrukturen, dabei insbesondere durch die sozialen Medien, die neue Ideen, Trends und Lifestyle-Angebote in Echtzeit über den Globus verbreiten. Einen dritten Antrieb für Pluralisierungen stellen Freiheitsrechte für Frauen, Kinder und sexuelle Minderheiten dar, die in den letzten Jahren über internationale Organisationen im Top Down-Verfahren in den Nationalstaaten implementiert wurden. Sie kollidieren gleichermaßen mit vertrauten verwandtschaftlichen Hierarchien als auch mit überlieferten Wertbeständen und sorgen für einen rapiden sozialen Wandel, der mitunter Gegenreaktionen bei denjenigen hervorruft, die die patriarchalische Familie zur unabdingbaren Keimzelle von Staat und Nation stilisieren.
Autoren und Autoren des Sammelbandes schrieben u. a. zu folgenden Themen:
- Elham Manea: Eine Kritik des essentialistischen Paradigmas
- Bassam Tibi: Der neue Kalte Krieg der Ideen zwischen den Zivilisationen und Alternativen dazu
- Susanne Schröter: Gender Clash in der Einwanderungsgesellschaft? Debatten um Rassismus, Sexismus und Kultur nach den Ereignissen der Silvesternacht 2015/2016
- Mathias Rohe: Außergerichtliche Streitbeilegung und »Paralleljustiz« in Deutschland unter kulturell-religiösen Vorzeichen
Bibliographische Angaben
Normenkonflikte in pluralistischen Gesellschaften. Frankfurt: Campus. 2017